Das Fotobuch in Kunst und Gesellschaft


„Partizipative Potenziale eines Mediums“ lautet der Untertitel. Herausgegeben von der Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft erwartet die Leser*Innen ein Reader voller visueller und textlicher Erzählungen in deren Mittelpunkt das Ausstellungsprojekt Welt im Umbruch mit dem Thema Fotobücher steht.

Das Buch „versteht sich als einführender Reader zum „Fotobuch in Kunst und Gesellschaft“ mit mehreren Leseebenen, textlich und bildlich, die dazu einladen, sich aus ganz unterschiedlichen Perspektiven dem Medium Fotobuch anzunähern.“

Was Ruth Gilberger hier zu Beginn schreibt, bedeutet in der Praxis, daß dieses Buch viele Fotos zeigt, die mehr erzählen als viele Worte aber ebenso viele Texte zu finden sind, die das zeigen, was Fotos nicht erklären können.

Interessant wird es durch einen doppelten Ansatz. Einerseits wird hier gezeigt, daß das Medium Fotobuch „eine künstlerische Ausdrucksform und Gestlatungsmöglichkeit für alle bietet“, andererseits wird hier dieses Medium als Mittel für Partizipation und Demokratie diskutiert.

Das Photobookmuseum als Gruppe Engagierter Menschen, die jenseits des Museums Outdoor ausstellen wollen, um mehr und anders Menschen zu erreichen und etwas zu bewirken, ist ein Kern des Buches und das Buch ist der Beweis, daß vieles funktioniert in analoger Form vor Ort – eben als Print.

Garry Badger führt in seiner Einführung dann aus, daß ein Fotobuch „nicht irgendein mit Fotos illustriertes Buch (ist, m.m.), sondern eines, das seine wichtigste Botschaft mit Fotografien tranportiert. Fotobuch bedeutet auch, dass Autor oder Autorin einen gestalterischen Anspruch haben.“

Bemerkenswerterweise führt er seine Leser*Innen dann über Walker Evans zu Instagram.

Und das geht so: „Der von Lincoln Kirstein geschriebene Essay zum Buch (American Photographs, m.m.) entwickelt ein stimmiges und noch immer relevantes Modell für modernistische Fotografie im“dokumentarischen Modus“ – „in the documentary mode“, wie Evans es nannte. Anders als bei den offen politischen Dokumentaristen wirft diese Fotografie einen eher unvoreingenommenen, persönlichen Blick auf die Gesellschaft und galt so als eine Art visuelle Literatur, nicht als mechanische Malerei…. Nach dem Zweiten Weltkrieg wandte sich die Kunst nach innen… 1954 veröffentlichte Rene Groebli Das Auge … und Ed van der Elsken brachte .. 1956 … einen persönlichen „Fotoroman“ aus dem Herzen des Existenzialismus – der Rive Gauche von Paris. Hier liegen die Anfänge der heutigen Instagram-Tagebücher und -Bekenntnisse.“

Seine hochinteressanten Ausführungen führen dann durch die vergangenen Jahrzehnte. Er zeigt, daß durch die Postmoderne in den 1970er Jahren eine „Dekonstruktion des Repräsentativen“ erfolgte, so daß die Hinwendung zur Welt gefiltert wird durch die eigenen Erfahrungen, die maßgeblich werden für die gemachten und gezeigten Fotos und Fotobücher.

Und es gibt heute eine Auseinandersetzung zwischen dem „physischen Reiz des Buches als Objekt“ und dem E-Book.

Er endet mit der Einschätzung von Lewis Baltz, daß die Fotobücher einen „tiefen Raum zwischen Roman und Film“ besetzen.

Schon auf der nächsten Seite diskutiert Susanne Bosch dann die Frage, was denn partizipative Kunst ist?

Man ist physisch dabei, weil man hingeht, dabei ist, mitmacht, anschaut. Aber führt es zu Veränderungen oder stabilisiert es die Verhältnisse?

Spätestens beim Interview mit Shalini Randeria wird dann deutlich, daß selbst subjektive Blicke auf die Welt in Fotobüchern die Welt in Frage stellen, weil das Soziale eben unser Schicksal ist un das Asoziale unsere Herausforderung.

Und damit sind wir mitten in diesem Buch, das dann als Fotobuch viel erzählt über das Projekt Umbruch, die Erfahrungen der Beteiligten und die Umsetzung.

„Fotobücher werden immer häufiger ausgestellt, doch sich mit Fotobüchern in den Stadtraum zu stellen und zur Partizipation am Medium einzuladen, ist bislang noch nicht untersucht worden. Es war nicht abzusehen, was uns erwartete. Würden sich die Menschen darauf einlassen, zwischen Einkäufen und Alltagstrott im Fotobuch zu lesen?“ So beschreibt  Anne-Katrin Bichler das, was wir dann auf den vielen Seiten danach sehen und lesen können.

Hier ist dann auch die Stelle an der ich dieses Buch verlasse, weil ich Sie einladen möchte, selbst dieses Buch anzuschauen. Es lohnt sich sehr.

Es bietet ungeheuer viel und ist durch die Fotos und Beiträge ein wunderbares Plädoyer für Fotobücher, Demokratie und Fotografie im Leben.

Es thematisiert und problematisiert und regt ungeheuer dazu an, eigenes Denken und eigene Sichtweisen zu überprüfen.

Es ist einfach richtig gut.

Das Buch ist im Jovis Verlag erschienen.

Das Fotobuch in Kunst und Gesellschaft
Partizipative Potenziale eines Mediums Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft (Hg.)
in Zusammenarbeit mit The PhotoBookMuseum

Schweizer Broschur mit Klappen
16,7 x 24 cm
468 Seiten, 220 farb. und s/w Abb.
Deutsch
ISBN 978-3-86859-580–2
12.2019

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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