Zwischenzeiten von Michael Kerstgens

Da reist im Auftrag des Stern der junge Fotoreporter Michael Kerstgens im Februar 1990 nach Mühlhausen. Er soll „die alte, zerfallene Stadt Mühlhausen fotografieren.“

Und so sind wir dabei, wenn ein junger Fotoreporter dieses Thema umsetzt und uns 30 Jahre danach in Buchform zeigt.

Es waren die Hochjahre der analogen Filmkameras im Kleinbildformat.

Wie geht er vor?

Er fotografiert die zerfallene bzw. zerfallende Stadt in Schwarzweiss obwohl Farbe auch sehr interessante Ergebnisse haben kann.

Was sehen wir?

Wir sehen viele Straßen mit Menschen, die unscheinbar und schleppend wirken.

Aber dann ist Kerstgens plötzlich nah dran im Wirtshaus oder in der Backstube. Da wirken die Menschen plötzlich persönlich und sie erzählen uns etwas.

Karsten Krampitz schreibt im Anhang: „Der Charme des Zerfalls läßt sich nicht konservieren. Wir sehen eine Wirklichkeit, die nicht lange Bestand haben wird…Vom Umgang mit der Geschichte berichten die Fotos von Michael Kerstgens nichts. Die Bilder zeigen kaputte Häuser und müde Menschen.“

Das Buch zeigt eine Realität, die an vielen anderen Stellen bis heute noch da ist. Diese Zwischenzeit mit ihren uneingelösten Versprechen ändert gerade die soziale und politische Landschaft.

Genau darauf weist Karsten Krampitz in seinem Essay hin. Er schreibt: „Die Gebliebenen und freilich auch die Zugezogenen haben heute eine sanierte Altstadt… Und nicht wenige haben inzwischen eine Partei, die ihnen eine Erzählung anbietet, mit der gerade in Ostdeutschland viele Leute meinen, die Welt verstehen und ertragen zu können.“

Die Kette von Erfahrungen medial und real von eigenen Anstrengungen, die sich nicht lohnen, Arbeitslosigkeit die bestraft wird, Asyl als anstrengungsloses Abkassieren, ein leeres Aufstiegsversprechen und vieles mehr ließe sich fast beliebig verlängern.

Daraus ergeben sich diese entmutigenden Widersprüche, die die politische Klasse in Deutschland gerade fördert statt sie abzuschaffen.

Und so hat dieses Buch eine ganz besondere Dimension als fotografisch festgehaltene soziale Landschaft, die konkret erklärt, warum es so ist wie es ist.

Ich finde auch den Auftrag des Stern die alte zerfallene Stadt Mühlhausen zu fotografieren deshalb bemerkenswert, weil er ja die zerfallene Stadt mehrdimensional fotografiert. Er fotografiert nicht nur die Gebäude und Straßen sondern zugleich auch die darin zu findende soziale Landschaft, die zerfallene soziale Landschaft.

Aber ist es überhaupt eine zerfallene soziale Landschaft oder war dies die vorhandene soziale Landschaft. Und was drückt sich in Architektur und deren Erhalt bzw. Zerfall alles aus?

Insgesamt kann man sich mit diesem Fotobuch länger beschäftigen, weil es klein und konkret einen guten Beitrag zu den großen Fragen unseres Landes vor Ort leistet.

Es ist im Lehmstedt Verlag erschienen.

Michael Kerstgens

ZwischenZeiten

Fotografien Mühlhausen 1990144 Seiten 85 Bilder, Duplexdruck
28 x 21 cm, gebunden, Hardcover, Fadenbindung, Leinen

ISBN 978-3-95797-097-8

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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