Zustände und Veränderungen oder Dokumentarfotografie ist eine Frage der Zeit

Was ist Dokumentarfotografie und wie unterscheidet sie sich von einer Reportage? Viele Antworten und viele Gedanken habe ich dazu gelesen. Nun ist mir selbst eine Annäherung eingefallen, die mir gefällt.

Dokumentarfotografie ist Augenzeugenfotografie. Sie fotografiert Zustände. Sie zeigt einen Zustand, wertfrei gemeint. Und sie kann alles zeigen. Die Reportage berichtet auch über einen Zustand, ein Ereignis und erzählt es im Zusammenhang. Genau hier ist für mich in der Theorie die Grenze.

Zudem finde ich das Wort Zustand gut, weil es beinhaltet, daß alles fließt. Wie ist sein Zustand fragen wir im Krankenhaus?

Schon dies zeigt, daß es immer auf den Zeitpunkt ankommt. Und daher ist aus meiner Sicht dieses Wort auch so gut geeignet. Setzt man Zustand nun in ein Verhältnis zum Zeitpunkt einer Aufnahme, dann ergibt sich daraus die Veränderung. Zustand und Zeitpunkt sind das Sichtbare und das Einordnende des Sichtbaren. Sie gehören untrennbar zusammen.

Denn hier kommt die Zeit ins Spiel. Die Zeit macht aus Fotos über Zustände, die alles und auch Ereignisse sein können, mehr.

Denn wenn nach dem Festhalten eines Zustands später noch einmal darüber berichtet wird, also erneut ein Zustand festgehalten wird, oder der erste Zustand zu anderen Zuständen in ein Verhältnis gesetzt wird, dann ergibt sich die Frage, was hat sich geändert oder hat sich etwas geändert.

Genau hier wird dann aus Fotografie Dokumentarfotografie.

Dokumentarfotografie ist die Einordnung und Deutung von Fotos mit Hilfe der Zeit, d.h. Zeitpunkt und Umstände, die an einem und am nächsten Zeitpunkt waren als die Fotos aufgenommen wurden.

Das ist meiner Meinung nach dann der Weg zur sozialdokumentarischen Fotografie.

Nun gibt es ja auch die Möglichkeit die Fotos nicht in ihr soziales Umfeld einzuordnen sondern nur die Fotos mit dem, was darauf zu sehen ist, miteinander zu vergleichen, sozusagen innewohnend/immanent. Da wären wir dann bei der zeitlosen Betrachtung. Zeitlos bedeutet aber nicht überzeitlich oder zeitlos gut. Das versucht zwar der Kunstmarkt aber das ist eher unseriös und PR.

Ein gutes Beispiel dafür findet sich in dem Buch von Frau Bussard über Martha Rosler und ihren Spaziergängen in der Bowery, einer verarmten Strasse in New York. Darin wird aufgeschlüsselt, daß Dokumentarfotografie und Streetfotografie sich immer überlappten und oft je nach Interessenlage und Mode tituliert wurden.

Zugleich zeigt Frau Rosler mit einigen ihrer Fotos, daß man eben nicht „echte“ Fotos, also ungestellte konkrete soziale Situationen, beliebig aus dem Zusammenhang reißen kann, um sie formal abstrahiert im Museum auszustellen.

Das ist alles ziemlich abstrakt aber ich mußte dies einmal so notieren, weil diese Notiz mir helfen wird, zu unterscheiden, also kritisch zu sein. Krinein kommt aus dem Griechischen und meint unterscheiden, wie uns in der Historie immer wieder beigebracht wurde, wenn wir Kritik üben sollten. So ähnlich steht es heute sogar in der wikipedia.

Das Ganze hier ist natürlich ein gedankliches Modell, weil das Wort Zustand schon ein Modell ist, weil Veränderung ein Modell ist und weil Zeit auch ein Modell ist. Wir kennen zwar die Uhr aber Zeitsysteme gibt es mehr als nur eins und letztlich ist alles eine Ableitung der vorgefundenen Natur.

Astrologen würden sogar noch die Zeitqualitäten unterscheiden.

Für mich reicht hier aber das, was ich hier aufgeschrieben habe.

Diese Notiz zur Dokumentarfotografie soll helfen, bewußt zu sehen, was man macht und was gemacht wurde.

Text 1.1

 

 

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert