The Documentary Impulse

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Warum gibt es Dokumentarfotografie? Wieso machen Menschen das?

Stuart Franklin geht in dem Buch The Documentary Impulse dieser Frage nach.

Seine Marker sind Fotobücher. Sie sind Herz und Seele dokumentarischer Praxis. Das erinnert mich doch sehr an meine eigenen Einschätzungen. Sie sind offenkundig deckungsgleich.

Da er professionell als Fotojournalist arbeitet und er die Veränderungen in seinem Metier als Fotojournalist miterlebt, beschäftigt ihn die Frage seines Buches sehr. Und so nimmt er uns mit auf eine Reise durch alle Zeiten der Dokumentarfotografie als Ergebnis fotografischer und fotojournalistischer Arbeit, wenn sie mehr liefern will als Ereignisfotos. Sein Buch ermöglicht Blicke hinter die Kulissen und ich habe viel Neues erfahren.

Dokumentarfotografie fängt dort an wo der Fotojournalismus aufhört.  Anders ausgedrückt braucht Dokumentarfotografie kein Ereignis sondern zeigt Wirklichkeit zwischen Menschen, in sozialen Beziehungen, in Gesellschaften, in Situationen zwischen Krieg und Frieden, Armut und Reichtum, Freiheit und Gefangenschaft. Umgekehrt führt oft erst ein Ereignis dazu sich länger mit einem Thema zu beschäftigen.

Die Ansätze dabei variieren und je nach Zeit und Umfeld dominierte die eine oder andere Sichtweise.

Von den Versuchen, das platonische Ideal auf der Welt zu finden oder zu erfinden über die pure Propaganda bis zum Engagement für soziale Verbesserungen reichen die Antriebe derjenigen, die es tun.

An Beispielen zeigt er, wie wichtig diese Arbeit ist.

Wenn Dinge oder familiäre Abläufe oder andere soziale Beziehungen dokumentiert werden, die danach so nicht mehr da sind, dann werden diese Dokumente zur einzigen Möglichkeit, sich zu erinnern, etwas darüber zu erfahren und weiterzugeben. So einfach ist das – und so schwierig zugleich.

Und dort wo die dunklen Stellen in einer Gesellschaft sind, kann nur die Dokumentation einer Situation darüber berichten.

Der dokumentarische Impuls dient so auch dazu, Erinnerungen unsterblich zu machen und ist zugleich Ausdruck des eigenen Selbst im Engagement für Andere. Es ist aber auch Neugier auf die Welt und Ausdruck von Macht und Ohnmacht.

Stuart Franklin geht Kapitel für Kapitel vor, zum Teil chronologisch und zum Teil nach Themen.

Mit Abstand die meisten Dokumentarfotografen versuchten durch ihre Fotos Armut und Benachteiligung und Diskriminierung zu dokumentieren, um ein Bewußtsein für Verbesserungen zu schaffen im Sinne einer humanitären Fotografie, so seine Aussage.

Er schreibt über viele bekannte und unbekannte Namen und über bekannte und viele unbekannte Fotobücher. Darcy Padilla und Donna Ferrato kommen ebenso darin vor wie Philip Jones Griffiths und Henri Cartier-Bresson und viele andere.

Es sind dann die Sätze nach der Namensnennung, die mir Informationen geben, welche ich sonst nie erhalten hätte, wenn er beispielsweise schreibt, daß Cartier-Bresson und andere ihre Fotos nur verkaufen konnten, weil sie den Wünschen der Kunden entsprachen und Kunden wie Paris Match wollten nach dem 2. Weltkrieg Fotografien und Streetfotografien, die die französische Lebensart positiv darstellten, um als Nation neu glänzen zu können.

Stuart Franklin selbst hat eines der bekannten Fotos vom „Tank Man“ 1989 am 4. Juni auf dem Platz des himmlischen Friedens aufgenommen. Jeder erinnert sich an den Mann mit den Einkaufstüten, der vor einer Reihe von Panzern stand. Und so fragt er auch danach, wie aus Fotos Fotoikonen werden und wie mit Fotos in Redaktionen umgegangen wird. So wurde das Foto in Deutschland und der Schweiz damals komplett ignoriert, Leichen waren besser.

Sein Kapitel über Kriegsfotografie glänzt mit Äußerungen von James Nachtwey, die er den realen Gegebenheiten zuordnet. Dabei fällt auf, daß Nachtwey einer der wenigen Fotografen ist, von denen fast keine Bücher zu bekommen sind, nur Sammelexemplare zu horrenden Preisen. Aber das nur am Rande. Da der Phaidon Verlag aber Bücher von Nachtwey ebenso verlegt wie das Buch hier wollte ich dies nicht unerwähnt lassen.

Er nähert sich dann der Welt der Gegenwart und da werden die Fotos von sozialen Konflikten immer wichtiger. Als in Bangladesh eine Nähfabrik einstürzte und viele Menschen starben, entstand das Foto von Taslima Akhter der beiden Liebenden im Tode vereint.

Um soziale Kämpfe heute zu zeigen und zu führen sind Fotos von schrecklichen und ermutigenden Momenten wichtig, weil sie Botschaften versenden. Informationen aus der Wirklichkeit, die Ereignisse und Entwicklungen zeigen, sind wesentlich für eine Demokratie und das Bewußtsein.

Wobei ich manchmal das Gefühl habe, die verbale Trennung von Fotojournalismus und Dokumentarfotografie ist für ihn eher akademisch, weil Fotos wie das von Taslima Akther als Ereignisfoto um die Welt gingen aber sie natürlich damit auch eine Reportage gemacht hat, die mehr zeigt und damit eine oder mehrere Geschichten erzählt. Ich würde den Begriffen Fotojournalismus und Dokumentarfotografie die Begriffe Ereignisse und Entwicklungen zuordnen.

Und der dokumentarische Impuls ist eben ein Impuls – also eine umfassende Mischung aus persönlicher Eitelkeit, sozialem Bewußtsein und konkretem Einsatz, der zu der Motivation führen kann, sich zu engagieren. Wer nicht davon überzeugt ist, etwas zeigen und verändern zu wollen, der wird auch nicht den Mut aufbringen, sich auf den Weg zu machen. Ohne den Einzelnen  mit seiner Sichtweise ist Dokumentarfotografie nicht praktizierbar. Daher ist die dokumentarische Darstellung das Ergebnis individueller Wahrnehmung von Wirklichkeit mit technischen Geräten.

Im Ergebnis sind es dann oft nur die Dokumentarfotografen, die über den Tag hinaus berichten, dunkle Seiten der Gesellschaft anpacken und erhellen. Und dabei handelt es sich dann oft um ausgebildete Historiker oder Kunsthistoriker, die nun fotografieren. Vielleicht weil da oft das Bewußtsein für die sozialen Wirkungen geschult ist und weil Schreiben heute nicht mehr reicht, um Veränderungen als Chronist und Publizist aufzuzeichnen und darzustellen.

Hauptberufliche Fotografen waren es eher weniger und Journalisten kaum. Heute wandelt sich das, weil heute die Ereignisfotos oft von Beteiligten geliefert werden und für Unbeteiligte nur noch die Reportage danach und die Dokumentarfotografie bleiben.

Die Texte des Buches entstanden 2013 bis 2015. Was ich seit 2007 hier zur Dokumentarfotografie erarbeitet habe, finde ich im Querschnitt nun bei ihm wieder.

Insofern bin ich sehr froh, daß ich über dieses Buch hier in deutscher Sprache schreiben kann und auf diese sehr spezielle Publikation in englischer Sprache aufmerksam machen kann. Ich bezweifle nämlich, daß es wegen seiner speziellen Art jemals übersetzt wird – wer weiß!

Ich finde mich in diesem Buch an vielen Stellen wieder und habe gemerkt, auch ich habe diesen Impuls für meine Themen:

In allem steckt Hoffnung und zugleich die Antwort warum es eher scheitert.

Aber der Impuls bleibt. Er kommt immer wieder. Bei mir ist es das Soziale in unserer modernen Gesellschaft und der Kampf gegen die Armut 2.0. Das hat auch ganz egoistische Motive, weil nur sozialer Zusammenhalt emotionale, soziale und kollektive Sicherheit schaffen kann. Das setzt eben soziale Absicherung voraus, die zugleich Voraussetzung für echte Demokratie ist wie sie im Grundgesetz steht.

Und dieses Buch ermöglichte mir das Gespräch mit einem Menschen, der genau so tief wie ich das Thema Dokumentarfotografie verfolgt, miterlebt und darüber nachgedacht hat. Da mir sonst die Gesprächpartner dafür fehlen fand ich nun in dem Buch das Gespräch und die Erfahrungen, die ich mit meinen abgleichen und gedanklich diskutieren konnte, wenn auch nur im Kopf und nicht Auge in Auge.

Aber das macht ja nichts.

In diesem Sinne vielen Dank für das Gespräch Mr. Franklin!

 

 

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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