Industriekultur und Fotografie oder wie Susan Sontag zu Leica kam

Wer Fotografie über Texte entdeckt hat schon Vorstellungen von Bildern in seinem Kopf und auch, welche er wo und wann und wie noch erstellen will.

„Reisen wird zu einer Strategie, die darauf abzielt, möglichst viele Fotos zu machen. Allein schon das Hantieren mit der Kamera ist beruhigend und mildert das Gefühl der Desorientierung, das durch Reisen oft verschärft wird… Nicht wissend, wie sie sonst reagieren sollten, machen sie eine Aufnahme. So wird Erfahrung in eine feste Form gebracht… Diese Methode kommt insbesondere jenen Touristen entgegen, die zu Hause einer erbarmungslosen Arbeitsehtik unterworfen sind – den Deutschen, Japanern, Amerikanern. Die Handhabung einer Kamera dämpft die innere Unruhe, die ständig unter Streß arbeitende Menschen empfinden, wenn sie Urlaub machen und sich nur amüsieren wollen.“

Diese Sätze stammen aus In Platos Höhle von Susan Sontag.

Da steckt viel drin. Wenn wir mit der Reisefotografie beginnen, dann wissen wir nun, daß die Kameraindustrie sich keine Sorgen machen muß, solange es verreisen gibt. Denn es werden nicht nur Smartphones gekauft werden, sondern auch die Kameras mit den Knöpfen und Drehrädern. Wer aus einer Industriekultur kommt, der ist mit Mechanik aufgewachsen. Er fühlt sich dann bei den Kameras wohl, die auch so eine Mechanik haben. So wird die eigene Kultur immer mitgenommen, wenn man unterwegs ist.

Sobald die Mechanik aber durch das Display ersetzt wird, sieht die Sache langsam etwas anders aus.

Die Kameras haben aber auch eine psychologische Funktion: sie sind die Methode der Begegnung und der Distanz. Solange das Objektiv dazwischen ist und ich meine eigene Kamera habe, ist die Distanz da, die ich für meine Sicherheit brauche.

Wer immer funktionieren muß, will auch eine Kamera, die immer funktioniert.

Damit ist aber noch lange nicht Schluß.

Sontag beschreibt dann eine Anzeige mit einer Gruppe von Menschen, die alle unruhig sind bis auf eine Person – die fotografiert. „Dieser hält eine Kamera ans Auge; er macht einen selbstsicheren Eindruck und scheint fast zu lächeln….Der Text der Anzeige … besteht lediglich aus sechs Worten: Prag … Woodstock … Vietnam …Saporro … Londonderry … LEICA. … Kolonialkriege und Wintersport werden von der Kamera gleichgesetzt. Das Fotografieren hat eine chronisch voyeuristische Beziehung zur Welt geschaffen, die die Bedeutung aller Ereignisse einebnet. Eine Fotografie ist nicht nur das Ergebnis der Begegnung zwischen einem Ereignis und einem Fotografen. Eine Aufnahme zu machen, ist selbst schon ein Ereignis, und zwar eines, das immer mehr gebieterische Rechte verleiht… Es bedeutet, im Komplott mit allem zu sein“ was ein Objekt interessant macht, …auch mit dem Leid und Unglück eines anderen Menschen.“

So symbolisiert Leica die Umsetzung der Industriekultur in die Kamera.

Wenn Kameras Ausdruck der Arbeitswelt sind, dann erfordert eine Veränderung in der Arbeitswelt veränderte Kameras.

Stimmt.

Je mehr Büroarbeitsplätze mit Monitoren, Tablets und Smartphones, desto mehr Kameras mit Monitoren, Touchdisplay etc.

Aber es gibt nicht nur eine Wahrheit sondern die Wahrheit ist, es gibt viele Wirklichkeiten.

Und Industriekultur ist männlich.

Foto: Michael Mahlke
Foto: Michael Mahlke

Aber wir sind ja auf dem Weg in die nachindustrielle Gesellschaft.

Was kommt fotografisch danach ist dann die logische Frage?

Die weibliche Seite.

Die weibliche Seite zeigt sich immer mehr, seitdem es digitale Zeiten gibt.

Frauen nutzen immer mehr Digitalkameras. Aber Frauen nutzen vor allem auch Smartphones mit Digitalkameras.

Und Frauen aus anderen Ländenr und Kulturen scheinen oft in der extensiven Nutzung nach meinen Beobachtungen sogar schon weiter oder noch weiter zu sein. Mir scheint es oft, als ob sie mit den Smartphones Tag und Nacht kommunizieren.

Foto: Michael Mahlke
Foto: Michael Mahlke

Es geht dabei fast nie um den entscheidenden Moment und fast immer um visuelle Kommunikation. Viele Fotos sind nach der Kommunikation schon nutzlos. Und die Kommunikation findet mit den Fotos über whatsapp statt, weil man glaubt, dort unter sich zu sein.

Zumindest sind dies meine Erfahrungen mit Frauen aus der Mitte des Lebens.

Je jünger desto mehr Facebook stelle ich in meinem Umfeld fest.

Es geht also darum, Fotos direkt in die Kommunikation einzubringen. Entscheidend ist die Funktion und daher funktioniert dies natürlich auch alles nur mit Handys und Smartphones.

Eine dicke Kamera ist absolut nichts für die tägliche Kommunikation unterwegs.

Unsere Zeit ist weiblicher und dies wirkt sich auch auf das Fotografieren aus.

Sobald aber das Smartphone nicht reicht, werden die Wünsche differenzierter. Und da ist dann die Frage zu stellen, was brauche ich noch mehr? Insofern sind die Kamerahersteller schon auf dem richtigen Weg. Aber die Marktanteile verteilen sich neu auf einem neuen Markt mit neuen Möglichkeiten. Einige sind noch gar nicht richtig da, andere schon.

Und so ist dies alles nicht nur faszinierend sondern auch erfrischend spannend.

Denn es zeigt sich, es ist noch nicht vorbei mit der Fotografie – ganz im Gegenteil.

 

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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