Alles war so. Alles war anders – Bilder aus der DDR von Thomas Billhardt und Kerstin Hensel

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„Mein erstes Blauhemd der Freien Deutschen Jugend fiel der Wellenradwaschmaschine zum Opfer… Da ich kein Blauhemd mehr besaß, mußte ich mich beim Appell zur Strafe in die letzte Reihe stellen, dort wo die Christlichen standen.“

So beginnt ein Kapitel von Kerstin Hensel, das „verdichtete Erinnerungen“ erzählt.

„Es gab so viele Deutsche Demokratische Republiken wie es Menschen gab, die dort gelebt haben. Wenn Typisches vorzuweisen ist, so kristallisiert es sich über Millionen einzelner Biographien heraus.“

Thomas Billhardt zeigt uns in Fotografien diese Epoche, bei der es nicht darum geht, die DDR wie sie war zu zeigen sondern sich zu erinnern.

„Die Wahrheit steckt hinter den Fassaden.“

So können wir die Fotos als Fassaden oder als reale Wiederspiegelung betrachten.

Es sind zeitgeschichtliche Fotos, die Erinnerungen auslösen. So habe ich vieles in der DDR auch erlebt.

Aber es ist irgendwie ein Ostblick auf die DDR.

Ich habe eher den Westblick, wenn es das gibt. Ich war jedes Jahr „drüben“. Wir mußten pro Tag 25 DM umtauschen. Wir fuhren mit der Bahn. Am Grenzübergang Helmstedt-Marienborn saßen wir immer still im Sechserabteil und warteten bis wir den Stechschritt der Grenzer hörten. Kniehohe Stiefel, knarrende Stimmen und das Öffnen der Koffer war an der Tagesordnung.

Wir durften den Ort nie verlassen und mußten uns immer sofort bei der Polizei melden und bezahlen.

Als ich älter wurde ging ich eines Abends durch den Ort. In den wenigsten Fenstern hingen Gardinen. Es war kurz vor acht. Wirklich überall war Westfernsehen zu sehen. Die Aufmärsche habe ich durch meine Verwandten kennengelernt. Und auch die Ängste. Westkontakte – selbst zur eigenen Schwester – waren teilweise beruflich vernichtend. So wie heute bei einer Bewerbung die Angabe, man sei älter als 50 oder habe studiert.

So haben sich die Zeiten geändert aber die Ergebnisse sind doch sehr ähnlich. Die Wahrheit steckt eben auch heute hinter den Fassaden.

Aber bleiben wir bei dem Buch.

„Die DDR war, wie jedes sozialistische Land, ein Ort, wo der Widerspruch zwischen gedachter und gelebter Utopie und Realität aufs krasseste zutage trat. Aber sie war kein Laboratorium und das Dasein kein Experiment. Hinter jedem Menschen steckt ein Leben, kein vorläufiges, sondern ein jahrzehntelang gelebtes.“

Das zeigt das Buch in der Kombination von Text und Bild.

Und dann kommt noch ein Satz, der daran erinnert, daß die DDR sich mit der Alltagsgeschichte des Volkes beschäftigte. Das sind Begriffe, die heute völlig out klingen: „Geschichte kann weder aufgearbeitet noch bewältigt werden. Sie ist nur aus dem Alltag heraus zu begreifen.“

Da könnte man länger drüber diskutieren.

In einer Rezension von 1999 heißt es:

„Billhardt, Jahrgang 1937, hat die gesamte Geschichte des Landes mitgemacht und es in dem Dreibuchstabenland zu einem der Ersten unter den Fotografen gebracht. Hensel, Jahrgang 1961, gehört zu der Generation, von der kommunistische Altkader in besten DDR-Zeiten behaupteten, sie hätte sich in die „gemachten Betten“ des Sozialismus gelegt. Hensel war wirklich undankbar. Statt sich des Bettes zu freuen, versuchte sie, den Mief des Bettes zu lüften. Billhardt und Hensel, geborene Chemnitz-Karl-Marx-Städter, haben sich zusammengetan, um „Bilder aus der DDR“ zu veröffentlichen. Dabeigewesene, kritische Gesellen, die sie sind, kam es ihnen gar nicht in den Sinn, die DDR schönzuschminken. Die letzten beiden Sätze sämtlicher Sätze von Hensel, die dem Buch den Titel Alles war so. Alles war anders verpaßten, bestimmen den Inhalt. Denn das Anstehen, Strammstehen, Stillstehen, Stummdasitzen, In-Reih-und-Glied-Marschieren war nicht d i e DDR. Bilder und Texte bringen eine Menge von dem zum Vorschein, was anders war. Das, was anders war, war das Leben der Leute. Jener Leute, von denen soeben der West-Berliner Autor Bodo Morshäuser abermals sagte, daß sie „einheitlich leicht nach vorn gebeugt“ gingen und, daß der Kopf „hängengelassen“ wurde, „als sei er längst abgegeben worden“.

Wer das Buch noch bekommt, der sollte es sich anschauen.

Thomas Billhardt und Kerstin Hensel

Alles war so. Alles war anders – Bilder aus der DDR

ISBN 3378010355

 

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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