Jakob Riis, der erste Fotojournalist Amerikas – aktueller denn je

Jakob Riis Phaidon
Jakob Riis Phaidon

Es gibt bei Phaidon die Reihe 55. Dort werden Fotografinnen und Fotografen vorgestellt. Ein jeweils guter Einführungstexte verbindet sich mit vielen Fotos und Erläuterungen. Eines dieser Bücher ist über Jakob Riis. Er wurde bekannt, weil er gegen Ende des 19. Jhrdts. in New York das Elend in den Mietwohnungen und auf der Strasse fotografierte und seine Fotos als Aufnahmen der Wirklichkeit galten, die sogar zu Verbesserungen der sozialen Zustände führten unter T. Roosevelt.

Wenn man mit einem Abstand von gut 100 Jahren auf die Fotos blickt, dann bin zumindest ich immer noch schockiert. Der erste Gedanke war, es hat sich nichts geändert. Das Flüchtlingselend überall auf der Welt und auch in Amerika, die Armut nach den Krisen – es kommen heute dieselben Bilder wieder.

Zwar wurde Monochrom abgelöst durch Farbe, aber das ist alles. Menschen, die sich stapeln, unhaltbare hygienische Zustände, lichtlose Hinterhöfe, das Schlafen unter Brücken und auf der Strasse, in lichtlosen Spelunken, Drogen als Betäubung gegen die Hoffnungslosigkeit und die Armut – alles das ist wieder da in den entwickelten und „reichen“ Staaten und Städten.

Erstmals ermöglicht ein solches Buch die Chance, aus der Geschichte zu lernen durch den Rückblick auf Fotos, die soziale Zustände festhalten. Da es sich um amerikanische Zustände handelt  und wir heute wieder solche Fotos sehen, können wir auch feststellen, dass Ausbeutung und Armut und der Kampf dagegen eine dauernde Aufgabe sind. Wenn man denn dagegen kämpfen will.

Heute stellt sich die Frage erneut und heute sind die Fotos in meinen Augen als Spiegel ihrer Rückkehr besonders bedrückend.

Jakob Riis
Jakob Riis

Wenn Sie Jakob Riis in einer Suchmaschine für die Bildersuche eingeben, dann gibt es auch viele Suchergebnisse.  Aber es ist ein Unterschied, ob man sie auf dem Monitor fast episch sieht oder auf Papier gedruckt spürt, wie sich dort dauerhaft Wirklichkeit festgeklammert hat.

Das Buch von Phaidon hat ein angenehmes Format und vereint viele Fotos, die alle ausführlich erklärt werden. So bleibt es nicht bei dem Foto.

Wenn Sie zum Beispiel auf das Foto des Covers schauen, dann sehen Sie das Mädchen. Sie wissen aber nichts über ihre Geschichte. Riis hat geschrieben wie er sie fotografiert hat und was sie sagte, als er sie fragte, was sie denn so tut. Und diese kleinen Geschichten geben dem Buch Leben und lassen uns erschrocken die Frage stellen, was wohl aus ihr geworden ist.

Jakob Riis gilt auch als einer der ersten sozialdokumentarischen Fotografen (link als pdf). Er wurde in gewisser Weise weltberühmt, obwohl ihm das kein Geld einbrachte und er bis an sein Lebensende mit 65 Jahren arbeiten mußte.

Das Buch ist irgendwie auch ein Buch über die Hoffnung und die Hoffnungslosigkeit. Und es ist ein Buch über Ungerechtigkeit und zeigt in den Erzählungen zu den Fotos auch, dass nichts von selbst kommt.

Seine Vorträge schloß er oft mit den Worte von James R. Lowell: „Meinst du, das Bauwerk soll dauern/Das die Vornehmen schützt und die Armen erdrückt?“ Das war ein Verweis darauf, dass asoziale Architektur auch asoziales Verhalten hervorbringen kann, weil der Mensch vielfach durch seine Umwelt als soziales Wesen bestimmt ist.

Insofern sind die Fotos von Jakob Riis aktueller denn je wenn man nicht zurückkehren will zu den Fehlern, die woanders und bei uns bis heute gemacht werden. Das Soziale muß man immer wieder neu erfinden sonst landet man im Asozialen.

Wer das Buch noch bekommen kann, der hält eine kleine Kostbarkeit in seinen Händen.

 

 

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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