Über den wissenschaftlich-methodischen Umgang mit Fotografie und Film von Irene Ziehe und Ulrich Hägele (Hg.)

Dieses Buch dokumentiert die Tagung „Visuelle Medien und Forschung. Über den wissenschaftlich-methodischen Umgang mit Fotografie und Film“, die 2010 in Berlin stattgefunden hat.

Folgende Themen der Tagung werden in dem Buch dokumentiert:

  • Manuela Barth, Ulrich Hägele, Torsten Näser, Irene Ziehe: Fotografie und Film: Forschungsfeld und wissenschaftliche Methode
  • Thorolf Lipp und Martina Kleinert: Im Feld – im Film – im Fernsehen. Über filmende Ethnologen und ethnografierende Filmer
  • Lena Christolova: Zwischen den Chiffren von Regnault und der Taxidermie von Flaherty. Wissenschaftsanspruch und Massenkulturphänomene im ethnografischen Film zwischen 1895 und 1931
  • Ulrich Hägele: Forscher im Fokus der Fotografie. Zur visuellen Konstruktion ethnografischer Wissenschaft
  • Ralf Forster und Volker Petzold: Erich Wustmann – mit Fotografie und Film über „fremde Kulturen“ erzählen
  • Markus Schindlbeck: Fotografie am Mittelsepik in Neuguinea: Inszenierung und Motiv
  • Rainer Alsheimer: Jakob Spieth als Ethnologe. Zwei fotoanthropologische Fallstudien
  • Manuela Fischer und Augusto Oyuela-Caycedo: Der zeitlose Rahmen. Fotografien aus der Sierra Nevada de Santa Marta, Kolumbien
  • Ingrid Peckskamp-Lürßen: Richard Fleischhut: Ein Fotograf und Filmer als Ethnograf
  • Cordia Schlegelmilch: „Zeit ohne Bilder“ – Ein Widerspruch zur medialen Präsenz in der Zeit der Wende?
  • Matthias Bullinger und Thomas Overdick mit einem Text von Peter Schanz Blaue Tage und Container. Die maritimen Bilderwelten von Peter Schanz
  • Sven Stollfuß: Bewegt-Bilder in der Medizin: der technisch zugerichtete ärztliche Blick zwischen Epistemologie und Spektakel
  • Thomas Abel: Bilder zweiter Ordnung. Untersuchung digitaler fotografischer Portraitpraxis mittels Fotografie(n)
  • Larissa Schindler und Tobias Boll: Visuelle Medien und die (Wieder-)Herstellung von Unmittelbarkeit
  • Anna Christina Stoffregen, Martin Jonas, Michaela Haibl: Wahrnehmung als Mittel zur Materialgenerierung – Wahrnehmung als Indikator
  • Neele Behler: Entgrenzte Forschung an entgrenzter Arbeit. Ein Essay über Grenzgänge im Entstehungsprozess einer Abschlussarbeit
  • Eva Lüthi: Ethnografische Fotografie im Einkaufszentrum

Visuelle Anthropologie ist also so groß wie das Gebiet des Visuellen. So lebt dieser Band von der systematischen Durchdringung einzelner kleiner Themen. Die Begrenzung erhöht in diesem Fall den inhaltlichen und visuellen Wert. Da ich mich vorrangig mit Dokumentarfotografie beschäftige, war die ethnografische Wissenschaft für mich eher neu.

Bis zu dem Punkt an dem Ulrich Hägele darauf verwies, dass für Pierre Bourdieu die Fotografie eine „überbrückende Funktion in der wissenschaftlichen Biografie (einnahm, M.M.): Sie diente einem transdisziplinären Herangehen in Abkehr von seiner frühen, übewiegend strukturalistisch geprägten Positionierung“ (S. 71).

Das Buch spannt einen weiten Bogen. Alle Beiträge sind sehr interessant. Es würde sich lohnen, sie einzeln und diskutierend vorzustellen. Das würde aber den Rahmen dieser Rezension sprengen.

Daher möchte ich mich auf zwei Autorinnen bzw. Autoren beschränken, Thomas Abel und Cordia Schlegelmilch.

Thomas Abel hat in seinem Beitrag „Bilder zweiter Ordnung“ sehr schön dargestellt, dass Bilder heute nicht mehr nur ein Gegenstand sind, den wir nutzen und betrachten. „Vielmehr dienen fotografische Apparate und verwandte (audio)-visuelle Bildmedien wie Film und Video als Forschungsinstrumente und werden zur Bearbeitung von Fragestellungen in der empirischen Datenerhebung beziehungsweise der Datenanalyse eingesetzt“ (S. 200).“ Dies macht die visuelle Soziologie.

Das halte ich für sehr interessant, weil es zurückführt zu den „sozialen Praktiken seiner Produktion“ (Burri). Und damit sind wir bei den sozialen Gebrauchsweisen. Das wird gerade jetzt mit der multiplen Vermassung der Fotos eine interessante Frage, die zukünftig sicherlich eine wachsende Rollen spielen wird..

Wie man ganz praktisch vorgeht, ist in dem Buch ethnografisch und sozial an einigen Beispielen ausführlich dargestellt worden.

Ich möchte für die sozialen Veränderungen das Beispiel von Cordia Schlegelmilch nehmen in ihrem Beitrag „Zeit ohne Bilder“.

Sie dokumentierte nach der Wende in Wurzen in Sachsen die soziale Situation, lebte dort in einer Familie und arbeitete mit Tonband und Kamera.

Die Ergebnisse wurden als Buch und als Ausstellung veröffentlicht und zeigen, wie gut, wie aufwendig und wie schwierig so etwas ist – und wie interessant, wenn es eingeordnet wird.

Es ist Sozialgeschichte, es ist Regionalgeschichte und es ist gute Dokumentarfotografie. Lesen Sie einfach im Buch den Artikel von Frau Schlegelmilch. Es lohnt sich.

Dieses Buch ist eine sehr seltene Dokumentation von wichtigen Themen. Aus Sicht der Geschichtsschreibung ist im Bereich Überrest und Tradition ein Medium hinzugekommen, aus Sicht der Soziologen ein neues Messinstrument zeitgenössischer Forschung.

Insgesamt ist dieses Buch eine echt gelungene Sammlung zum Thema anthropologische Diskussion, visuelle Soziologie und praktische Dokumentarfotografie.

Gut gemacht!

Das Buch ist im Waxmann-Verlag erschienen.

Irene Ziehe, Ulrich Hägele (Hrsg.)
Über den wissenschaftlich-methodischen Umgang mit Fotografie und Film,
Visuelle Kultur. Studien und Materialien, Band 5,
ISBN 978-3-8309-2515-6

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert