Rote Distel von Davide Monteleone

Foto: Michael Mahlke

Die Jury hat gut gewählt. Die rote Distel ist das Symbol der kaukasischen Kämpfer. Sie ist auch der Titel des Buches von Davide Monteleone und Lucia Sgueglia. Beide bereisten die Region und es entstand ein Buch mit Fotografien und Texten von besonderer Art.

Erzählt werden die Geschichten von Familien, Frauen und Männern, die dort leben und sterben. Wir erleben das Unrecht von Krieg und sozialen Kämpfen und die Probleme von Fanatismus und fehlender Toleranz. Das zutiefst Menschliche zeigt sich dort in allen Facetten.

Die dort gezeigten Menschen könnten wir selber sein. Was würden wir tun ohne Demokratie und mit der Macht der Gewehre?

Die Fotos von Davide Monteleone in dem Buch sind auf den ersten Blick eher surreal. Blättert man das Buch durch und sieht die Fotos, dann denkt man im ersten Augenblick an eine fotografische Geschichte Richtung moderne Fotokunst.

Wenn man dann die Erzählungen liest, erschliesst sich hinter jedem Foto eine ganze Welt. Man blickt ganz anders auf jede einzelne Fotografie und nimmt sie viel mehr wahr.

Und dann kommt noch der dritte Blick. Liest man im Anhang die Erklärungen zu den einzelnen Fotografien, dann öffnet sich wiederum eine neue Welt. Es ist dieses Mal die politische Gegenwart, die man dort spürt.

Das Buch ist unglaublich spannend, wenn man sich darauf einläßt. Die Texte und Fotos verschmelzen dann irgendwie zu einer poetischen Dimension von Dokumentarfotografie. So werden Gefühle, Blicke in die Seele und zutiefst menschliche Seiten sichtbar.

Es ist poetische Dokumentarfotografie. Gibt es das?

Zumindest ist dieses Buch mehrdimensional und es öffnet sich den Leserinnen und Lesern immer mehr. Es ist nicht langweilig und man legt es nicht nur weg sondern nimmt es auch wieder in die Hand. Es öffnet die Tür zum Verständnis einer Region und seiner Menschen.

Beim Lesen der Erzählung „Die Liste“ spürt man, dass man auf einmal mit Problemen konfrontiert wird und Begriffen, die im eigenen Leben keine Rolle spielen. Was sind Wahhabiten, warum wurde Murad ermordet?

Die Erzählung endet mit den Sätzen „Die Liste der Wahhabiten. So nennen sie uns. Weil wir nur Gott gehorchen… Sie hingegen haben viele Gesetze… doch wenn diese Gesetze nicht einmal von den Männern des Staates eingehalten werden, warum sollten wir sie dann achten? Jetzt, da ich nichts mehr zu erwarten habe, möchte ich nach oben, ins Paradies. Murad wartet dort auf mich. Ich weiß es.“

So erfahren wir, warum manche Dinge nie enden und offenbar zur Menschheit gehören. Auch dies macht das Buch so beeindruckend. Es ist ein Spiegel des menschlichen Charakters, wir sehen uns selbst, wenn wir hinschauen statt wegzuschauen.

Allen Beteiligten ist es gelungen, dem Thema ein fotografisches und poetisches Gesicht zu geben – herzlichen Glückwunsch!

Zudem ist das Buch wunderbar gebunden und verarbeitet. Es ist im Kehrer-Verlag erschienen.

Rote Distel
von Davide Monteleone, Lucia Sgueglia
ISBN 978-3-86828-294-8

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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